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Wien darf Istanbul bleiben



Eine Kopftuch tragende Frau inhaliert den farblosen Rauch, der durch den Gummischlauch einer Wasserpfeife in ihren Mund schießt. Anschließend bläst sie ihn aus, hinweg über die Neue Donau, wo das fragile Gemisch aus Teer, Tabak und Apfelaroma über dem leuchtend blauen Wasser eine Sekunde lang eine geschlossene Einheit bildet. Doch kurz darauf wird die kleine Wolke bereits von einem Windstoß aufgefangen und zurück ans Ufer geweht. Vom übermächtigen Sauerstoff bis ins nahezu Unkenntliche verdünnt, treffen die Überbleibsel auf die Gesichter der unzähligen anderen Badegäste, die an diesem heißen Wiener Sommertag Abkühlung suchen. Alles, was sie von der winzigen Dosis des Lungengiftes wahrnehmen, ist der angedeutete Hauch einer aufgeschnittenen Apfelspalte.

Während ein Sommer in seiner türkischen Heimat endlos ist, sind Tage wie dieser in Wien kostbare Schätze, die oftmals zerrinnen, bevor man sie richtig greifen kann

Die Frau mit dem Kopftuch nimmt einen weiteren Zug, bevor sie den Schlauch an ihren Mann weiterreicht. Dieser wirft einen sorgfältigen Blick auf die langsam verglühende Kohle des aluminiumbedeckten Kopfes der Wasserpfeife. Zufrieden mit seiner Arbeit nimmt er einen tiefen Zug und schließt genießerisch die Augen, so als wollte er jedes kleinste bißchen dieses kostbaren Tages einsaugen. Während ein Sommer in seiner Heimat endlos ist, sind Stunden wie diese in Wien rare Schätze, die oftmals zerrinnen, bevor man sie richtig greifen kann.


Mit immer noch geschlossenen Augen greift der Familienvater zielsicher auf eines der Produkt aus seiner alten Heimat, die in einem weiten Halbkreis auf der Wiese verteilt liegen. Sogar die Mineralwasserflaschen haben eine türkische Aufschrift, sei es als stiller Trotz gegen das vielgerühmte Wiener Leitungswasser, oder einfach nur als Überbleibsel der eigenen Herkunft, die man nicht aufgeben möchte.

Ein Chor aus orientalischen Sprachen und Balkandialekten, gemischt mit dem wienerischen Crescendo eines aus der nahen Brigittenau angereisten Hausmeisters, liegt als permanenter Geräuschpegel über dem Areal.

Neben des zwar provisorischen, aber äußerst aufwendig errichteten türkischen Dorfes, liegen auf deutlich simpleren Unterlagen oder einfach direkt im Gras Menschen aus den unterschiedlichsten Herkunftsländern. Ein Chor aus orientalischen Sprachen und Balkandialekten, gemischt mit dem wienerischen Crescendo eines aus der nahen Brigittenau angereisten Hausmeisters, liegt als permanenter Geräuschpegel über dem Areal. Hier, an der U6 Station Neue Donau, darf Wien das sein, was es gerne öfter wäre: eine vor Lebendigkeit pulsierende südeuropäische Metropole, in der jeder von überall herkommt, und wo alle willkommen sind.


Während die Wiener Sommerstunden verrinnen, steigt die Temperatur weit über die dreißig Grad Marke. Von der Hitze unbeeindruckt schlägt eine Gruppe asiatischer Frauen neben den Türken ein neues Lager auf. Ihr Reich besteht vor allem aus aufwendig zubereiteten Speisen, die in Tupperware-Behältern aller Farben, Größen und Formen mitgebracht wurden. Irgendwann stößt ein Mann zu der Gruppe, der die Damen zwar zu kennen scheint und auch ihre Sprache spricht, der aber dennoch nicht mit ihnen auf dem Handtuch sitzen darf. Hungrig schielt er auf die dargebotenen Köstlichkeiten, bis ihm endlich eine der Frauen einen köstlichen Behälter gebratener Nudeln reicht.

Man erfreut sich an der Gemeinschaft, anstatt sich über die anderen zu ärgern. Hier passiert etwas, das in Wien sonst kaum erwünscht ist: Fremde Menschen kommen ungezwungen miteinander ins Gespräch.

Im Bereich des einzigen Baumes direkt am Ufer im Umkreis von zweihundert Metern ist mittlerweile kein Fleck Wiese mehr frei. Man liegt dicht auf dicht, was außer dem Corona-Babyelefanten niemand zu stören scheint. Man erfreut sich an der Gemeinschaft, anstatt sich über die anderen zu ärgern. Hier passiert etwas, das in Wien sonst kaum erwünscht ist: Fremde Menschen kommen ungezwungen miteinander ins Gespräch, und sogar Ur-Österreicher legen plötzlich jede Menschenscheu ab: Eine ältere Dame mit leuchtend weißer Haut unterhält sich mit zwei jungen verschleierten Mädchen. Neugierig fragt sie, warum die Damen erst ihr Gesicht verbergen, um fremde Männer nicht in Versuchung zu führen, um sich dann dicke Schminke um die Augen aufzutragen, die sie erst recht noch reizvoller erscheinen lässt. Ein Mann aus dem Irak gesellt sich zu der Gruppe, und auch wenn kaum jemand Deutsch spricht, funktioniert die interkulturelle Kommunikation bestens.

Manchmal scheint es, als wären die Deutschen extra nach Wien gezogen, um die Wiener lässiger aussehen zu lassen.

Doch auch reines Hochdeutsch ist zu hören, von zwei Studentinnen aus Hannover. Die eine schwärmt von ihrem letzten Backpacker-Trip nach Kambodscha, der sie auf eine geheimnisvolle Insel gebracht hatte. Nie wieder, erzählt sie der staunenden Freundin, habe sie von dort weggewollt, weil dort die wildesten Partys der Welt gefeiert werden. Nach zwei Wochen jedoch hatte sie genug gehabt, und wollte den mit einem Mal schrecklich gewordenen Ort so schnell wie möglich verlassen. Eine Affäre mit einem Schwarzen aus Amerika war schief gegangen, denn sie erwarte von einem Mann, dass dieser sie rund um die Uhr betreue, und der Amerikaner hatte diesen Ansprüchen nicht genügt. Ein paar Meter weiter sitzt ein Mann, der das Gespräch mithört. Er lehnt sich zu seiner Frau und meint, dass die Deutschen nur deshalb nach Wien gezogen sind, um die Wiener lässiger aussehen zu lassen.

Wenn in diesem Wahlkampf wieder davon gesprochen wird, dass Wien nicht Istanbul werden darf, sollten wir bedenken, wie langweilig Wien ohne die Ausländer wäre, und dass es magische Flecken wie diesen nicht gäben würde.

Immer weitere Menschen strömen von der Ubahn ans kühlende Ufer der Donau. Auf den Schultern trägt ein junger Mann eine Palette Dosenbier, das anschließend warm getrunken wird. Man ist hier nicht zimperlich, der siebente Bezirk mit seinen Moscow Mules ist Welten entfernt. Die einzige gastronomische Einrichtung ist ein Eisstand, der Twinni, Cornetto und andere Besteller der letzten Jahrzehnte verkauft. Wenn in diesem Wahlkampf wieder davon gesprochen wird, dass Wien nicht Istanbul werden darf, sollten wir bedenken, wie langweilig die Stadt ohne ihre Ausländer wäre, und dass es magische Flecken wie diesen nicht geben würde. Wien darf immer Istanbul, Belgrad und Kabul bleiben und muss sein multikulturelles, pulsierendes Herz diesseits und jenseits der Neuen Donau bewahren.

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