Moon River im Westend
Eine Dame mittleren Alters hustet, als ob sie den Staub des gesamten Gürtels eingeatmet hätte, der sich nur zwei Meter neben ihr hinter dem dicken Lärmschutzglas vorbeischlängelt. Der Mann an ihrer Seite klopft sich lachend auf die Schenkel und zieht sie zu sich herüber. „Heast, Liesl, trink an Sliwowitz, dann gehts wieder“, schreit er der direkt neben ihm, vom Hustenanfall gekrümmt auf der Bank liegenden Frau ins Ohr.
„Heast, Liesl, trink an Sliwowitz, dann gehts wieder“
Der japanische Klavierspieler setzt ungerührt mit Moon River fort – er würde auch nicht aufhören zu spielen, wenn neben ihm die Titanic untergehen würde. Es scheint nicht unwahrscheinlich, dass er zur Zeit dieses Unglücks auch schon am Flügel des Café Westend gesessen und Leuten beim Husten zugesehen hat. Dabei hat er wenige Minuten zuvor noch stoisch am Nebentisch ein Butterkipferl verspeist, begleitet von einem großen Braunen, bevor er sich erhoben, die Brösel vom schwarzen Anzug geklopft und auf dem Schemel neben dem großen Flügel Platz genommen hat. Früher hätte mir das Lied gut gefallen, doch heute berührt es mich nicht mehr. Wenn Musik unwichtig wird, weiß man, dass man erwachsen geworden ist.
Grau und von der Zeit vergessen, markiert dieses Kaffeehaus nicht nur das Ende der Mariahilfer Straße, es ist auch das Ende Wiens, denn dahinter liegt das Grenzgebiet und der fünfzehnte Bezirk. Alles, was sich jenseits von hier befindet, scheint sowieso verloren. Ein Tourist, der erschöpft von einer langen Anreise aus dem Zug ins erstbeste Lokal in Bahnhofsnähe taumelt, mag entsetzt sein vom Westend und seiner Schäbigkeit. Vielleicht lässt er sich aber auch fallen, bestellt gerührt von der Zeitlosigkeit dieses Orts eine Melange, eine Facette der Welt genießend, die es eigentlich gar nicht mehr geben kann. Hier ist der Frack des Kellners keine Show, sondern Normalität, auch wenn es in der Welt der Besucher dieses Cafés keine Kleiderordnung gibt.
Hier ist der Frack des Kellners keine Show, sondern Normalität, auch wenn es in der Welt der Besucher dieses Cafés keine Kleiderordnung gibt.
Als Wiener geht man erst ins Westend, wenn die Sonne untergegangen und der Rausch vom Vortag ausgeschlafen ist. Zwischen Bierflaschen und Rotweingläsern trauen sich dann die Rastlosen der Stadt hervor. Sie treffen sich zum Kartenspielen, um den Frust eines ganzen Lebens runterzuspülen oder um, getrieben von Schnaps und Einsamkeit, einen Bestseller zu schreiben. Egal, wer und wozu man gekommen ist, das nächste Achterl wird für jeden gleich eingeschenkt.
Die Dame hat sich mittlerweile von dem Hustenanfall erholt, ihr Mann hilft ihr in den Mantel und sie machen sich bereit zu gehen. Ich blicke ihnen nach, bis sie die Dunkelheit des Gürtels vor der Tür verschluckt und sie im Lärm der vorbeifahrenden Autos untergehen. Eine Kellnerin fragt mich, ob das leere Häferl am Nebentisch mir gehört. Ich schüttle langsam den Kopf und zeige auf den Klavierspieler, der zuvor daraus getrunken hat. Sie lächelt mich zum ersten Mal an diesem Abend an, sagt etwas, das ich nicht verstehe, und geht davon, während das leere Häferl unberührt stehen bleibt und auf den nächsten Kellner der Nacht wartet.
Eine von 17 Geschichten aus dem neuen Buch "Der Wiener Alltagspoet fährt U6"
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