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Zwei Happy Hours und eine Mondfinsternis am Wiener Gürtel


An einem frühsommerlichen Donnerstagabend rauscht der nie enden wollende Autoverkehr auf allen sechs Fahrspuren des Wiener Gürtels vorbei wie ein Wasserfall, dessen Tropfen immer weiter nach unten stürzen, bis sie schließlich an ihrem Ziel ankommen, nur um ein paar Stunden später in Dampfform wieder in die Gegenrichtung aufzusteigen. Im Gegensatz zur stärkst befahrenen Straße der Stadt ist das zwischen den Fahrbahnen gelegene namenlose Lokal in den Stadtbahnbögen spärlich gefüllt: Ein Mann sitzt einsam an der Bar und bestellt in diesem Moment sein zweites Glas Wein. Mit dem ersten stößt er ein vor sich stehendes verbogenes Kartonschild um, auf dem gleich zwei Happy Hours angekündigt werden: eine von 19-21 Uhr, die zweite von 22-24 Uhr. In dem rabattfreien Zeitfenster zwischen neun und zehn kann man entweder den nachhause gehen, abstinent bleiben, oder ein Bier bestellen – auf das gibt es nämlich sowieso nie Ermäßigung. Das Lokal ist trotz abgesagtem Raucherschutzgesetz nur leicht verqualmt, was nicht an der Qualität der Lüftung liegt oder gar an einem Einlenken unserer Regierung – es fehlt schlicht an der nötigen Menschenmenge, um den Sauerstoffgehalt in dem mittelgroßen Raum nachhaltig zu verschlechtern. Doch weder freie Atemwege noch vergünstigte Getränke sorgen automatisch für glückliche Menschen: Eine Gruppe Engländer sitzt an einem der Tische, und während die U6 plangemäß ein paar Meter über ihren Köpfe vorbeirauscht, scheitern die Briten an der Erlangung eines solchen Rauschzustandes, obwohl die Drinks billiger und stärker sind, als in der Heimat. Vorsichtig nippen sie an ihren Gin Tonics, etwas verwundert darüber, dass hier an einem Donnerstagabend, kurz vorm Wochenende, so wenig los ist.

Wien ist eine launige Diva: meist zu vornehm, um sich wirklich gehen zu lassen - aber wenn sie sich doch zu einem Tänzchen auffordern lässt, dann brennt es lichterloh.

„Haben Sie Wien schon bei Nacht gesehen?“ heißt es, auch wenn sie in Großbritannien wahrscheinlich noch nie von Reinhard Fendrich gehört haben. Auch dieser dahinplätschernde Abend wird kaum jemandem im Gedächtnis bleiben, in einem Gürtelbögenlokal, dessen Namen man sich nie merken kann, obwohl man immer wieder dort landet. Wien ist überhaupt eine launige Diva: meistens zu vornehm, um sich wirklich gehen zu lassen - aber wenn sie sich doch zu einem Tänzchen auffordern lässt, dann brennt es lichterloh. Heute aber ist den Anwesenden klar, dass das nichts mehr wird. Es gibt diesen kritischen Punkt im Laufe einer Nacht, an dem die Stimmung und der eigene Alkoholisierungsgrad einen gewissen Pegel erreicht haben müssen. Wenn diese Zielsetzung fehlschlägt, dann ist jeder weitere Schluck eine unnötige Verschwendung von Leberkapazitäten. Man könnte das Bier auch einfach stehenlassen und gleich nachhause gehen, will sich diese Kapitulation aber noch nicht eingestehen.

An Bilder wie diese denken junge Touristen aus Berlin und Amsterdam, die zwei Tage nach Wien kommen und die Stadt für die langweiligste der Welt halten. Man möchte sie hinauszerren, in das verzauberte Wien aus Beyond Sunrise und dem Dritten Mann, weg vom Sound of Music.

Fluchtachterl

Die Bar würde in ihrem Minimalismus die perfekte Kulisse abgeben für ein Theaterstück, in dem die Handlung im Vordergrund steht und das Publikum nicht von irgendwelchen pompösen Requisiten abgelenkt werden soll, nur das diesem Abend leider auch die Geschichte abhanden gekommen ist. Das Lokal fühlt sich an wie ein Leo vom Leben, niemand kommt hierher, um etwas zu erleben, noch nicht einmal, um sich ernsthaft zu betrinken. Das Fluchtachterl erfüllt hier tatsächlich seine Bestimmung als letzter Drink des Abends. An Bilder wie diese denken junge Touristen aus Berlin und Amsterdam, die zwei Tage auf Besuch kommen und die Stadt für die langweiligste der Welt halten. Man möchte sie hinauszerren, in das verzauberte Wien aus Beyond Sunrise und dem Dritten Mann, weg vom ernüchternden Sound of Music. Doch dieses Wien muss man erst suchen, denn die Stadt präsentiert sich nicht jedem dahergelaufenen Lonely Planet Touristen, man muss sie sich erst verdienen.

"Hast du dir schon einmal überlegt, wo der Mond herkommt?“, fragt er sie in diesem Moment. „Ja schon...aber eigentlich reicht es mir zu wissen, dass er immer da ist.“

Wo der Mond herkommt

Ein junges Mädchen sitzt neben mir an einem der Tische. Ihr Freund hat heute mit ihr Schluss gemacht, und für ein zwanzigjähriges Leben bedeutet das zumindest einen Abend lang das Ende. Sie erzählt mir von ihm, dass er doppelt so alt ist wie sie, aber nur halb so erwachsen. Zwölf Monate sind sie zusammen gewesen, nie haben sie etwas unternommen, außer sich bei ihm oder ihr zuhause zu treffen, dort Wein zu trinken und miteinander zu schlafen. Außerhalb der zwei kleinen Wohnungen im 5. und 17. Bezirk haben sie sich kaum je gesehen, es war ihm wohl unangenehm gewesen, dass sie so jung war, oder er so alt. Nur ein paar wenige Male haben sie sich in der Stadt verabredet, und dann immer in schäbigen Bars wie dieser hier, wo er sicher sein konnte, dass ihn niemand kannte. Ganz am Anfang waren sie sogar einmal genau hier in diesem Lokal gewesen, unter der Woche, es war noch weniger los gewesen als heute. Damals war zumindest sie schon sehr verliebt gewesen, wie in Trance hatte sie auf einem der Stehhocker Platz genommen und war versunken in den Augen ihres Gegenübers. Verzaubert vom Anblick des anderen konnte damals nicht einmal die triste Kulisse dieser Kaschemme ihrer jugendlichen Liebe etwas anhaben. Damals war es ihr so vorgekommen, als hätte er ihren Blick erwidert, aber heute erscheint ihr das albern. Sie hat ihn dann genau an diesem Tisch sitzend gefragt, ob er sich schon einmal überlegt habe, wo der Mond herkommt. Ja schon, hat er geantwortet, aber eigentlich reicht es ihm zu wissen, dass er immer da ist. Sie wusste damals nicht, ob das nun pragmatisch oder doch poetisch auszulegen war. Warum man mit jemand zusammen ist, für den man sich schämt, möchte sie von mir wissen, weil er ja nicht da ist, aber diese Frage kann ich ihr auch nicht beantworten. Sie zündet sich eine Zigarette an und blickt aus dem verdreckten Fenster der Bar hinaus in die scheinbar endlose Ferne des Asphalts, obwohl die doch bereits am Häuserblock der gegenüberliegenden Straßenseite endet. Sie scheint da draußen nicht zu finden, wonach sie sucht, denn irgendwann erinnert sie sich wieder an meine Existenz und wendet sich mir zu, auch wenn ich nicht er bin. Am Nebentisch unterhalten sich zwei Männer, einer von ihnen bekommt bald einen Sohn. Ob man sein eigenes Kind auch wirklich automatisch lieben würde, obwohl man die Sprösslinge der anderen eigentlich meistens nicht ausstehen kann, möchte er wissen vom anderen, der bereits vor Jahren Nachwuchs gezeugt hat.

Schlussakt

Die Eingangstür öffnet sich ein weiteres Mal, der Exfreund des jungen Mädchens tritt ein und der Schlussakt des Abends beginnt. Irgendwie sind immer noch alle da und sehen nun von ihren Getränken hoch. Im Unglauben darüber, dass hier heute doch noch etwas passiert, erwachen auch die Briten aus ihrer Totenstarre. Der Exfreund steht in der Tür und wird von den Scheinwerfern der vorübergleitenden Autos in ein gleißendes, aber schnell wieder verlöschendes Licht getaucht. Mit oder ohne Beleuchtung sieht er nicht nur deutlich älter aus als das junge Mädchen, sie sind überhaupt ein ungleiches Paar, auch wenn sie ja gar nicht mehr zusammen sind. Er wirkt unsicher, als er an ihren Tisch tritt, so als wäre er es, der gerade erst dem Teenageralter entwachsen ist und nicht sie. Die beiden sehen sich an, keiner spricht ein Wort, und doch scheinen sie mehr zu kommunizieren als je zuvor. Nachdem alles gesagt ist streckt er seine Hand aus, immer noch vor ihr stehend, und nach einem winzigen Zögern ergreift sie diese. Erst jetzt setzt er sich. Es ist Mitternacht, und obwohl die zweite Happy Hour vorbei ist, bestellt er noch einen Drink, während ich meinen austrinke und die Engländer und alle anderen sich bereit machen, nachhause zu gehen.

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