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Wien sehen und sterben


Als Wiener hat man das Privileg, in der lebenswertesten Stadt der Welt zu wohnen. Das hat aber einen entscheidenden Nachteil: man wird diesen Ort niemals als Tourist besuchen können. Das Sisi Museum kennt man als Einheimischer genauso nur vom Hörensagen wie die Spanische Hofreitschule. Um einmal in den Genuss eines Wochenendes in Österreichs Hauptstadt zu kommen, gibt es demnach nur eine Möglichkeit: man muss im Hotel einchecken und Tourist spielen.


Mit dem Linienflug „U4“ beginnt also mein Städtetrip nach Wien. Über die App der Wiener Linien ist zwar keine Sitzplatzreservierung möglich, dafür dauert die Fahrt auch nur zwölf Minuten. Bei der Landstraße steigt eine chinesische Touristen zu, die ebenso viele Stunden im Flieger verbringen musste, um nun auch endlich in der Stadt der Habsburger sein zu dürfen. Am Karlsplatz steige ich aus, in der angeschlossenen Untergrundpassage scheint das pulsierende Herz der Stadt zu schlagen. Vor wenigen Jahren noch haben sich hier die Obdachlosen an kalten Winternächten in ihre Schlafsäcken gekauert, heute holen sich die Touristen Lattes von Starbucks. Von hier ist es nur ein kurzer Fußweg ins gerade neu eröffnete und trotzdem altehrwürdigen Erzherzog Rainer Hotel. Beim Check In zeigt sich das Personal zuvorkommend und hilfsbereit, keine Spur vom Wiener Grant, vielleicht ist man als Tourist immun dagegen. In den aufliegenden Prospekte der Stadt Wien wird das Tafelsilber vermarktet: Paläste, Kirchen, Museen, offenbar gibt es in dieser Stadt nichts, das jünger ist als ein paar Jahrhunderte.

Erzherzog Rainer

Dem zum Trotz befindet sich gleich neben meinem Hotel, etwas versteckt zwar, ein hipper Kaffeeladen, in dem junge Menschen mit modernen Maschinen fair gehandelte Bohnen zu köstlichen Heißgetränken verarbeiten.

Barista am Werk

Wenige hundert Meter stadteinwärts endet das Freihausviertel und der erste Bezirk rollt seine große Bühne vor mir aus wie einen roten Teppich. Ein Verwandter von Wolfgang Amadeus Mozart möchte mir Opernkarten für heute Abend verkaufen, auf Englisch, offenbar spiele ich den Touristen genauso gut wie mein Gegenüber die Rolle des großen Komponisten. Während der nächsten Meter muss ich öfters innehalten, zu verschwenderisch erscheint die Ansammlung historischer Pracht. Wien ist keine griechische Insel, die einen mit überirdischer Naturschönheit erschlägt, hier mussten erst Menschen Stein und Ziegel aufeinanderschichten, um einen Platz in der Weltgeschichte zu erlangen. Während ich in solchen Momenten normalerweise auf mein Handy schauen würde, schenke ich dem architektonischen Wunderwerk diesmal die gebührende Bewunderung. Alles sieht hier tatsächlich so aus, wie in den Prospekten des Stadtmarketings: Wo man auch hinseht steht irgendeine Kirche, ein Museum oder hat scheinbar achtlos jemand ein pompöses Gebäude hingeworfen, wenn es einen Instagram Filter mit dem Titel „Historisch“ gäbe dann wäre er hier angeschalten. Bei einem Wohnhaus bin ich mir unsicher, ob darin wirklich Menschen leben, oder ob es sich nicht doch um einen versteckten Palast handelt.


Wiener Jause

An jeder Ecke werden Torten, Mehlspeisen und in Fett herausgebackenes Fleisch verkauft. Neben deftigem Essen scheinen die Österreicher besessen zu sein von Mozart und Kängurus. Der Stephansdom war in meiner Kindheit einmal die pompöseste Kirche der Erde, nach unzähligen Reisen in Länder, in denen es auch schöne Kirchen gibt, kann ich das Ganze heute besser in Perspektive setzen. Ich biege einmal rechts ab und dann wieder links, plötzlich sind die Touristenmassen weg und ich verirre mich in den engen Gässchen, es ist fast zu schön um wahr zu sein.


An meinem ersten Abend in Wien sitze ich mit einer Flasche Wein im Museumsquartier. Aufgrund der lauen Temperaturen könnte man meinen, an einer römischen Piazza zu sitzen, die Stimmung ist jung, ausgelassen und laut. Nur wenige Meter weiter in einer Seitenstraße treibt ein verzweifelter Wirt seine Gäste um Punkt dreiundzwanzig Uhr aus dem Gastgarten, weil die Nachbarn sonst wegen Lärmbelästigung die Polizei rufen.


Tag zwei


Unter den strengen Blicken des Erzherzog Rainer schupft das Personal im Hotel die Frühschicht, während der zur Stoßzeit über hundert Gäste gleichzeitig verköstigt werden wollen. Eine asiatische Touristin schichtet einen Turm aus Speck auf ihren Teller, neben den sie vorsichtig noch ein paar Würstchen platziert, auch in Fernost hat man mittlerweile die Fleischeslust entdeckt. Ich komme mit dem Kellner ins Gespräch, obwohl es an nichts fehlt meint er, das Service könnte noch besser sein. „Ausreichend“ ist offenbar das höchste aller Urteile, zu dem der Wiener fähig ist. Perfektion existiert nicht, und man strebt auch nicht nach ihr, denn das wäre viel zu anstrengend.


Mit der Ubahn geht es auf die Mariahilfer Straße, auf der ein Deja-Vu wartet, denn man könnte auch auf einer Einkaufsstraße in Dublin stehen. Ab und zu fährt ein Auto im Schritttempo vorbei, deren Fahrer unsicher zu sein scheint, ob man hier durchfahren darf oder nicht. In einer Querstraße findet an diesem Tag das Neubaugassenfest statt. Im Angebot stehen orientalische Stickware, organische Lebensmittel und Handyhüllen. Eine Band aus Wien singt auf einer kleinen Bühne französische Lieder. Bratenduft steigt von einem dutzend Hühnern auf, die sich langsam in dem Ofen einer Fleischerei drehen. Vor ihr sitzt eine Gruppe von Männern an einem mit leeren Bierdosen beladenen Tisch, während nur zwei Meter daneben eine junge Dame einen Fruchtsmoothie bestellt. In Wien liegen die Welten nahe beieinander, auch wenn sie sich gegenseitig kaum berühren.

Neubaugassenfest

Es gibt von allem ein bisschen etwas, man befindet sich auf einer ständigen Gratwanderung: Ist Wien nun cool, weil es den siebten Bezirk gibt, oder doch altbacken, weil die Straßen auch in Neubau am Sonntag leergefegt sind? Unberührt von dieser Frage kippt der Koch am indischen Stand ein paar Meter weiter gerade einen großen Sack Tiefkühlgemüse in einen gewaltigen Wok, dazu rührt er einen halben Liter Clever Tomatensauce aus dem Tetra-Pak. Es dauert nur wenige Sekunden, bis das gefrorene Gemüse sich mit dem heißen Rest des Essens vermischt hat, sodass man schon bald keinen Unterschied in dessen Herkunft ausmachen kann und alles zu einem großen Ganzen wird, so als ob der Inder eine Metapher auf die Stadt selbst singen möchte.

Wiener Melange

Um das Tiefkühlcurry zu verdauen braucht es eine Melange im traditionsreichen Café Jelinek, das an diesem herbstlichen Frühlingstag im Mai noch einmal den Kachelofen angeworfen hat. Menschen lesen Zeitungen und schreiben Bücher, am Nebentisch sitzt eine Familie aus Deutschland, die ihre in Wien studierende Tochter besucht. Der Vater redet über Jesus und darüber, dass er ihm den Weg weist und er nicht versteht, warum nicht die ganze Welt dem Ruf der Apostel folgt. Seine Tochter schreit ihn an, es funktioniere doch nicht einmal im Kleinen, in ihrer eigenen Familie, dass man sich versteht und zusammenhält, wie solle das dann auf einer weltweiten Bühne hinhauen? Sie stürmt auf und läuft aus dem Kaffeehaus, der Kellner nimmt es mit stoischer Ruhe hin und serviert dem zurückgelassenen Vater zum Trost eine Portion Apfelstrudel.

Kellnerlegende

„Ich hab auch schon den König von Thailand bedient – aber eins sag ich Ihnen, der hat auch nur zwei Hände und zwei Füße wie jeder andere“, erklärt Wolfgang Stöger, Kellnerlegende aus der Schule des Hotel Bristol. Mittlerweile serviert er Schnitzel in der Wiener Wirtschaft, doch für ihn ist es egal, wo er arbeitet, und wem er geklopftes Fleisch serviert, den Wiener Schmäh kann man nicht abdrehen. Nach dem Abendessen geht es auf den Gürtel, wo der hippere Teil der Wiener Jugend im Chelsea zu Indie-Klassikern tanzt, die zwar nicht mehr ganz aktuell sind, doch was sind schon ein zwei Jahrzehnte in einer Stadt wie Wien? Das denken sich auch die anwesenden Herren, die den Damen altersmäßig weit überlegen sind. Irgendwann sind alle betrunken von den Wieselburgern aus der Flasche, und man grölt zu „Wonderwall“ mit. Die Nachtubahn bringt mich nachhause, neben mir knutscht ein junger Bub mit einem Mädchen. Plötzlich steht er auf, rennt zum Ausgang und dreht sich einmal noch kurz um, „schön wars mit dir“, ruft er der Zurückgelassenen zu, bevor er in der Wiener Nacht verschwunden ist, während das zurückgelassene Mädchen zu weinen beginnt.


Wien ist Liebe auf den ersten Blick, und dann wieder auf den dritten oder vierten. Es ist garstig und unwirsch, warmherzig und voller Schmäh, angeberisch schön und sträflich vernachlässigt. Es ist in einem endlosen Moment die imposanteste Stadt der Welt, nur um ein paar Augenblicke später wieder in der eigenen Melancholie unterzugehen.


Vielen Dank an das Erzherzog Rainer Hotel für die Einladung, durch welche diese Geschichte zustande kam!

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