Alles wird besser
Das alte Jahr liegt auch hier, an der Peripherie Wiens, in seinen letzten Atemzügen, genauso wie man selbst, während man keuchend der abfahrbereiten Ubahn hinterher läuft. In letzter Sekunde schafft man es hineinzuspringen, bevor sich die Türen für immer schließen. Gleich darauf würde zwar der nächste Zug in Richtung Zentrum einfahren, doch das zählt genauso wenig wie die Tatsache, dass nach dem Ende eines alten Jahres immer auch ein neues beginnt. So muss in den letzten zwei verbleibenden Stunden alles erledigt, alles wiedergutgemacht, und alles erlebt werden, wozu ein ganzes Jahr lang keine Gelegenheit war.
Am Ziel angekommen macht sich endgültig Unruhe breit. Die Stimmung ist lauwarm anstatt, waaait for it: legendary! wie es in den Sitcoms vorgeschrieben wird, deren Drehbücher wir nachleben.
Einem jungen Mann war dieser Druck zu viel, er sitzt über seinem eigenen Erbrochenen, stützt das Gesicht in die Hände und verschließt die Augen vor dem, was er da angerichtet hat, vielleicht auch vor dem, was noch kommt. Um ihn herum weichen die Leute zurück, weggetrieben vom unsichtbaren Geruch der ausgestoßenen Exkremente. Von einzelnen früh Gefallenen wie ihm abgesehen ist die Stimmung ausgelassen im Inneren des Wagons, für die meisten besteht noch Hoffnung. Alle dreihundertfünfundsechzig Tage beschließen auch die Wiener, ihre Geziertheit fallen zu lassen und sich auf die Suche nach der einen Silvesternacht zu machen, die sie ewig nicht vergessen werden. Partyhüte sind aufgesetzt, billiger Sekt wird direkt aus der Flasche getrunken, die Fahrt ist kurz und die Getränke bereits lauwarm. Wie auf ein stilles Kommando hin entleert sich der Zug im Herzen der für einmal pulsierenden Stadt. Alles um einen herum ist in aufgeregter Bewegung, jeder hat ein Ziel, an das er schnellstmöglich gelangen muss, bevor die Uhr abläuft. Man selbst eilt schnellen Schrittes zur Wohnung eines Freundes, der ständigen Verführung anderer Feiernder trotzend, die selbstbewusst zu wissen scheinen, wo die endgültige Party des Jahres steigt. Zweifel machen sich breit, ob die eigene Wahl die richtige war. Am Ziel angekommen bestätigt sich die dunke Vorahnung: Die Stimmung ist lauwarm anstatt, waaait for it: legendary! wie es in den Sitcoms vorgeschrieben wird, deren Drehbücher wir nachleben. Angekommen bei der Feier sind die anwesenden Freunde bereits alt geworden in den letzten Silvestern, auch wenn sie sich entschlossen an den Ottakringer Dosen ihrer Jugend festhalten. Einer erzählt von seinen Kindern, erschrocken dreht man sich weg, als er tatsächlich sein Handy herausholt, um Fotos vom Nachwuchs in die milde lächelnde Runde zu halten. Zum Glück läutet in diesem Moment das eigene Telefon, die Rettung wartet in Form einer mysteriösen unbekannten Nummer, es ist die letzte ungeplante Variable des digitalen Lebens. Am Ende der Leitung fragt jemand, wo man bleibt, doch wer ist da eigentlich dran? Im Hintergrund hört es sich aufregend an, zumindest besser als im hier und jetzt.
Das neue Ziel ist ein Lokal am Gürtel, man kennt es gut von vielen beliebigen samstäglichen Nächten, doch heute ist Montag und Silvester, alles ist anders, alles wird besser.
Man verabschiedet sich mit einer schnellen Ausrede und springt in ein Taxi. Der Fahrer kommt aus Afrika, er ist gelassen, vielleicht weil er kein Wiener ist, vielleicht aber auch, weil er arbeiten muss und dadurch keine Chance hat, etwas zu erleben oder zu verpassen. Geduldig fährt er dem Ruf der Telefonstimme nach, das Ziel ist ein Lokal am Gürtel. Man kennt es gut von beliebigen samstäglichen Nächten, doch heute ist Montag und Silvester, alles ist anders, alles wird besser. Immer noch weiß man nicht, wer einen angerufen und herbestellt hat, man sitzt alleine an der Bar und kann weder vor noch zurück, denn dafür reicht die Zeit nicht aus. Zumindest bei den anwesenden Fremden passt der Alkoholisierungsgrad, die Männer grölen und die Frauen jubeln, es ist dieser Moment in einer Nacht, in dem viele Menschen den richtigen Pegel erreicht und sich an einem Ort versammelt haben, um irgendwann miteinander zu schlafen, zu feiern, oder zumindest zu trinken. Man findet keinen Anschluss und hat zu allem Übel selbst aufs Trinken vergessen, weshalb man jetzt schnell versucht aufzuholen. Nach dem vierten Wodka fangen alle plötzlich an zu schreien und von zehn herunter zu zählen, man braucht tatsächlich einen Moment bis man realisiert, dass einem nur noch wenige Sekunden übrig bleiben.
Gemeinsam mit den anderen läuft man auf die Straße, wo der Himmel über einem explodiert in allen Farben der Welt, es ist, als würde Krieg herrschen, und gleichzeitig der neue Tag anbrechen.
Aus den Lokalen strömen unbekannte Menschen auf die Straße, wo der Himmel über einem in allen Farben der Welt explodiert, es ist, als würde Krieg herrschen, und gleichzeitig der nächste Tag anbrechen. Das Atmen fällt schwer, die Feinstaubbelastung ist derart hoch, dass es gar keinen Sinn mehr macht, nicht zu rauchen, es wird Tage dauern, bis die Luft sich von diesem Kater erholt hat, doch auch die Erde muss für diese eine besondere Nacht ihr Opfer bringen. Ein junges Mädchen weint, während sie sich an einer Zigarette festklammert, mit der anderen Hand telefoniert sie mit ihrem Freund, der gerade mit ihr schlussmacht, es ist ein Kalender überschreitendes Beziehungsende, sie trägt das erste gebrochene Herz des neuen Jahres. Auf einem Balkon über der Erde tanzt ein neu geformtes Paar den Donauwalzer zu abgehackten Tönen aus dem Lautsprecher eines alten, aus Afghanistan geflüchteten Mobiltelefons, während ein paar hundert Meter entfernt im Wiener AKH ein Neujahrsbaby geboren wird. Unzählige Schicksale entfalten sich rings um einen, man selbst steht mittendrin und ist dennoch unsichtbar.
Ein ganzes langes Jahr liegt vor uns, so viel Zeit etwas zu erleben, es kümmert uns wenig, dass wir nun von jeglicher Dringlichkeit befreit wieder in die alte Behäbigkeit zurückfallen werden.
Ein Mädchen steht alleine auf der verlassenen Straße, sie hält eine langsam verglühende Sprühkerze in beiden Händen. Das Feuer liegt in den letzten Zügen, das Pulver Wiens ist verschossen und Erleichterung macht sich breit bei den Feiernden, eine unendlich schwere Last fällt ab, denn das neue Jahr ist endlich angebrochen. Alle Fehler der Vergangenheit sind verziehen, in diesem Moment kümmert es uns wenig, dass wir nun von jeglicher Dringlichkeit befreit wieder in die alte Behäbigkeit zurückfallen werden. Leben kann man schließlich auch später noch, es ist noch so viel Zeit, zumindest bis zum nächsten Silvester, wenn wieder ein Jahr vorüber geht.
Comments