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Wo die Bim ans Meer fährt

Es ist dieser Moment, wenn die Zeit im Flugzeug ewig nicht zu vergehen scheint, man im Landeanflug durch die Luft fällt, und die Maschine in einer endlosen Turbulenz wackelt, die nie vorüber zu gehen scheint. Bis man plötzlich die Wolkendecke durchbricht und unter einem die vier Millionen Lichter der Stadt Athen aufleuchten, jedes einzelne die Hoffnung eines ganzen Lebens ausstrahlend, während mit einem Mal alles ruhig dahingleitet. Dieser eine Moment, in dem man einfach weiß, dass alles gut wird.

Flugzeuge und Himmelsstürmer

Um 3 Uhr Früh tritt der Taxifahrer auf die Bremse seines klapprigen VWs, als wir an der über uns thronenden Akropolis vorbeifahren. „Heute hat jedes Volk so etwas – aber wir, wir waren die Ersten“, erzählt er mit stolz geschwellter Stimme. Ganz egal ob die Griechen in der Antike oder die Österreicher vor dem ersten Weltkrieg – irgendwann war jedes Land einmal eine bedeutende Großmacht, und darauf darf dann ruhigen Gewissens die nächsten Jahrhunderte gepocht werden. Das Wort „Griechenland“ löst aber auch ohne jeglichen Größenwahn eine unendliche Sehnsucht aus, die allen Anwesenden sofort das Fernweh in die Augen treibt: Nach sandigen Füßen und verschwenderischen Sonnenuntergängen, die aussehen, als ob Pablo Picasso seinen Malkasten umgeworfen hätte, ohne sich die Mühe zu machen, ihn jemals wieder aufzustellen. Nach Gyros am Strand, angesichts dessen Köstlichkeit die Wiener Kebapverkäufer die nächsten hundert Jahre nachsitzen müssen. Dazu ein Glas griechischen Weins, der allerdings entgegen der Behauptung von Udo Jürgens meist eher nach Brennspiritus schmeckt – kein Land ist perfekt. Zumindest herrscht in Griechenland ewiger Sommer. Wahrscheinlich stimmt das nicht, aber man kommt hier ja nur im Juli und August her, und wenn im Wald ein Baum umfällt und keiner da ist um es zu sehen, dann ist es schließlich fraglich, ob der Baum wirklich umgefallen ist. Doch an diesem Tag ist erst Mai, was bedeutet, dass es öfters mal regnet, wodurch das ganze Land in Kombination mit der brennheißen Sonne in eine einzige aufgehende Blüte metamorphosiert, die erst wieder abfällt, wenn die Heerscharen des Massentourismus eintreffen. Es hat schon knapp dreißig Grad, das Meer ist sogar für die kältefürchtenden Griechen warm genug zum schwimmen, und noch etwas weniger leergefischt. Für die Einheimischen ist der Mai der schönste Monat im Jahr, wenn das Land ihnen gehört, es noch einmal innehält, bis der Sturm beginnt.

Vom Athener Zentrum fährt man mit der Bim direkt an die Küste, in einen der Vororte, die alle ein wenig an Klosterneuburg erinnern, wenn dieses statt an der Donau am Meer liegen würde.

Von Athen nach Klosterneuburg

Griechenland hat übrigens auch ein Festland und sogar eine Hauptstadt. Diese heißt Athen, zumindest im klobigen Deutschen, denn auf griechisch heißt sie Athina, das „th“ sprechen die Einheimischen aus wie das schönste „f“ der Welt. Trotz dieses „f“ fährt da kein Mensch hin, weil es ja die hunderttausend Inseln gibt, auf denen jeder sein möchte. Jetzt sollte das große „aber“ kommen: dass Athina in Wahrheit wunderschön ist und man es auf gar keinen Fall links liegen lassen darf - doch leider ist Athen tatsächlich die hässlichste Stadt im Land, nicht einmal der poetische Namen kann sie rausreißen. Man fragt sich, wie den Griechen, die sonst jedes verschlafene Kaff aussehen lassen können wie einen untergehenden Regebogen, so eine unprächtige Hauptstadt passieren konnte. Die vom Taxifahrer so bewunderte Akropolis sieht von der Nähe übrigens aus wie ein alter Steinhaufen, vor dem noch dazu ständig dasselbe Baugerüst wie am Stephansdom aufgebaut zu sein scheint. Aber (jetzt kommt das aber doch noch), Athen hat trotzdem einiges zu bieten: zum Beispiel eine Milliarde Bars und Kaffees und ein besetztes Viertel, das aussieht wie Berlin, als die Stadt noch etwas Besonderes war. Während man untertags eher unbeeindruckt durch die schwülen und verkehrsgeplagten Straßen schlendert, geht es nach Sonnenuntergang richtig los, man kann sich das in etwa so vorstellen, wie wenn das Museumsquartier fünf Millionen Einwohner hätte. Früh aufstehen zahlt sich also nicht aus, stattdessen gilt es lang aufzubleiben, und noch länger zu schlafen. Um die Stadt zu entdecken gibt es sogar eine Ubahn, die leider nicht ausgebaut werden kann, weil ständig irgendwelche antiken Ausgrabungen dazwischen kommen. Viel besser ist aber ohnehin die Bim, mit der man vom stickigen Zentrum direkt an die windige Küste fahren kann, in einen der Vororte, die alle ein wenig an Klosterneuburg erinnern, wenn dieses statt an der Donau am Meer liegen würde.

Während einem die unbeschwerte Lebensfreude der Italiener und Spanier befremdlich vorkommt und man sich in deren Gesellschaft für einen steifen Fremdkörper hält, fühlt man sich zwischen den Griechen und ihrer aufgrund der Tragödie des Lebens permanent zur Schau gestellten Melancholie sofort zuhause.

Griechisch-Wienerische Tragödien

Wer von Athen Richtung Süden loszieht befindet sich endlich zumindest einmal auf einer Halbinsel, der Peloponnes. Ständig fährt man an einem jahrtausendealten Theater vorbei, man möchte in jedem Dorf anhalten und nie wieder losfahren. Man fotografiert bis der Akku leer ist oder man drauf kommt, dass dieses Land nicht auf ein iPhone passt, dann endlich kann man die Kamera weglegen und richtig hinschauen. Es gibt keinen Fleck, der hässlich ist, wenige Bausünden, stattdessen sacht in die Landschaft eingewebte und von in allen Farben blühenden Bouganville umgarnte Tavernen und Pensionen. Deren Betreiber sind angenehme Zeitgenossen: Während einem die unbeschwerte Lebensfreude der Italiener und Spanier befremdlich vorkommt und man sich in deren Ländern für einen steifen Fremdkörper hält, fühlt man sich zwischen den Griechen und ihrer aufgrund der Tragödie des Lebens permanent zur Schau gestellten Melancholie sofort zuhause. Auch die absolute Lieblingsbeschäftigung der Griechen, rumzusitzen, einen Kaffee zu trinken und dabei in die Luft zu starren, reißt jegliche kulturelle Barriere sofort nieder. Selbst in dem kleinsten Kaff gibt es zehn Cafés, so viel Koffein kann man gar nicht zu sich nehmen, dass die alle überleben könnten. Aber das Geld verdienen haben die Griechen ohnehin nicht erfunden, oft hat man das Gefühl, es ist ihnen unangenehm, überhaupt etwas zu nehmen, weil sie einen wegen der heiligen Gastfreundschaft am liebsten gleich auf alles einladen würden. Kein Wunder, dass das Land pleite ist, es ist zu schön, um es mit übertriebenen Ambitionen zu zerstören. Man kann einen Karriereplan haben, oder Oliven essen. Am Ende schmecken die Oliven einfach besser.

Es riecht nach gegrilltem Fisch und den rußigen Abgasen verrosteter Katalysatoren. Hier am scheinbaren Ende Europas sind Athina, die EU und die Krise weit weg.

New York ist eine Insel

Mit einer Fähre geht es weiter auf eine Insel, die so klein ist, dass man sie zu Fuß an einem Tag durchqueren könnte. Niemand hat je von ihr gehört, obwohl auf ihr der schönste Strand der Welt liegt. Die Uhren werden bei der Ankunft um zwanzig Jahre nach hinten gedreht, ohne weltlichen Fortschritt geht man hier sorgsamer miteinander um, keiner ist dem anderen etwas neidig. Das denkt man zumindest in der naiven Romantik des Besuchers, bis der einheimische Wirt am Hafen, dem einzigen Zentrum der Insel, nach ein paar Bier redselig wird und von der Zeit erzählt, als die Hauptstädter die Insel als Feriendestination entdeckt haben. Plötzlich wurden kaum sichtbare Trennlinien zwischen den Lokalen in den Asphalt gestrichen, denn jeder Zentimeter Verkaufsfläche brachte bare Euros. Nach ein Uhr nachts hatte Ruhe zu herrschen, ansonsten gab es eine Anzeige vom Nachbarn, dessen eigene Bar weniger gut besucht war. Der plaudernde Wirte erzählt von seinem Bruder, einem erfolgreichen Anwalt aus New York, der nach Jahrzehnten in den USA mit seiner Familie zurückgezogen ist auf seine Insel, die er vor Jahrzehnten verlassen hatte um die große weite Welt zu erobern. Er kehrte zurück, um in der Heimat Bürgermeister zu werden und die Streitereien zu schlichten, doch nach acht Jahren gab er auf. Ist man hier plötzlich wieder zuhause gelandet, oder ist es am Ende doch überall dasselbe?

Das hübscheste Mädchen am Campingplatz

Am Campingplatz ein paar Kilometer außerhalb des Hafens ist all das ganz weit weg: Die wenigen Touristen genießen ihre Frappes, die von einer jungen, dunkelhaarigen Griechin sorgfältig zubereitet werden. Ein etwa dreißigjähriger deutscher Mann bestellt jeden Tag mindestens drei davon, obwohl er gar keinen Kaffee mag. Er überlegt, sein Leben in Deutschland aufzugeben um wegen ihr hierherzuziehen. Irgendwann traut er sich, ihr seine Umzugspläne in gebrochenem Englisch zu beichten, und fügt noch stotternd hinzu, dass sie die hübscheste Frau ist, die er je gesehen hat. Sie lächelt ihn an, etwas überfordert mit dem Kompliment schlägt sie die Augen nieder, wahrscheinlich haben schon viele Besucher ihr Herz auf der Insel verloren. Während der Mann kommende Woche zurück ins kalte Deutschland fährt, wird sie den ganzen Sommer ihre Frappes anrühren, um irgendwann vielleicht nach Athen ziehen und studieren zu können. Wahrscheinlicher ist allerdings, dass sie auch nächsten Sommer noch auf der Insel sein wird, man kann sie sich nicht so recht vorstellen in der großen Stadt, sie, das hübscheste Mädchen der Welt, zumindest auf diesem Campingplatz.

Am Ende des Kontinents

Der südlichste Punkt der Peloponnes ist gleichzeitig die südlichste Stelle Kontinentaleuropas. Stimmt zwar nicht ganz (Gibraltar ist noch weiter unten), aber die Griechen behaupten es trotzdem. Es riecht nach gegrilltem Fisch und den rußigen Abgasen verrosteter Katalysatoren. Hier am scheinbaren Ende des Kontinents sind Athina, die EU und die Krise weit weg. „Solange wir unser Olivenöl anbauen können und Fische im Meer sind, kann uns die Krise nichts anhaben“, sagt einer der Ortsansässigen. Es ist diese Gelassenheit vor dem Verlust, die uns die Griechen voraus haben. Nicht einmal der Tod scheint sie zu beeindrucken, solange sie im Jenseits weiter Kaffee trinken und aufs Meer schauen dürfen.

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