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Vom Fußball, (und) dem Sinn des Lebens


Alle vier Jahre erhält der Alltag eine Pause. Einen ganzen Monat lang muss man nicht darüber nachdenken, worin der Sinn der eigenen Existenz besteht, denn es ist Fußball-WM. Plötzlich liegt jeglicher Fokus auf dem Abschneiden von elf Menschen aus Ländern wie Costa Rica, Südkorea oder Tunesien, deren Namen man zwar nicht buchstabieren oder gar aussprechen kann, mit denen man aber mitfiebert, als ginge es um das eigene Leben. Spiele, die man sich normalerweise nicht einmal als Katerprogramm an einem langsamen Sonntagnachmittag anschauen würde, reichen plötzlich als Entschuldigung dafür aus, den halben Tag vor dem Fernseher zu verbringen. Im Vorfeld musste man sich als politisch korrekter Mensch noch die Frage stellen, ob man sich diese WM in Russland überhaupt ansehen dürfe. Annektierung der Krim hin, Menschenrechtsverletzungen her: die Zeitungen zeigen Bilder von freundlichen russischen Ordnern, und Wladimir Putin ruft vor den Spielen seiner Mannschaft kurz beim Trainer an um ihm Glück zu wünschen – so schlecht kann dieses Land dann ja wohl doch nicht sein. Man klatscht also den Schlachtruf der Isländer mit, bestaunt zusammen mit dem Rest der Welt den Reinlichkeitswahn der Japaner, wundert sich über die Ammoniak schnüffelnden Russen und erfreut sich am Aufstand der Kleinen – auch wenn die Halbfinalisten aus Kroatien, England, Frankreich und Belgien ohnehin namhafte Fußballnationen sind, aber wer will sich schon die schöne Schlagzeile versauen lassen.

Angesichts der euphorischen Bilder feiernder Damen und Herren in rotweiß karierter Kleidung aus dem sechzehnten Bezirk muss man sich fragen, was wohl passieren würde, wenn das rot-weiß-rot Österreichs einmal ins Endspiel käme? Würden dann die Pensionisten auf den Straßen Hietzings tanzen und ein hupender Autokonvoi durch die Grinzinger Allee ziehen?

Von Ottakring nach Split

Die Großen haben es ohnehin immer schwerer: es liegt in der Natur des Menschen, den Außenseitern die Daumen zu Drücken. Für uns Österreicher war David sowieso immer schon attraktiver als Goliath, unser kleine Republik cooler als das übermächtige Deutschland. Das reicht weit übers Sportliche hinaus: Im Ausland beim Deutsch sprechen ertappt stellen wir schnell klar, dass wir gar keine Deutschen sind und nicht vorhaben, mit unseren Handtüchern irgendwelche Strandliegen zu reservieren. Auch werden wir den Einheimischen nicht erklären, wie sie ihre Beach Bars führen, ihre Wohnung isolieren oder den chaotischen Verkehr neu regeln sollen. Uns fehlt es aufgrund mangelnder internationaler Bedeutung schlicht an Selbstvertrauen, dafür sind wir aber besser im laissez faire – stellt uns einen Kaffee hin und alles ist gut. Sogar den Turniersieg einer Jugotruppe würden wir mittlerweile stoisch hinnehmen, während wir anerkennend einen Sliwowitz kippen – aber liebe Kroaten, gebt um Himmels Willen Ruhe beim Feiern, die Ottakringer Straße ist schließlich kein Vorort von Split und in Wien werden die Gehsteige um elf aufgerollt. Angesichts der euphorischen Bilder feiernder Damen und Herren in rotweiß karierter Kleidung aus dem sechzehnten Bezirk muss man sich fragen, was wohl passieren würde, wenn das rot-weiß-rot Österreichs einmal ins Endspiel käme? Würden dann die Pensionisten auf den Straßen Hietzings tanzen und ein hupender Autokonvoi durch die Grinzinger Allee ziehen? Irgendwie scheint der Wiener den Balkan jedenfalls als Teil seiner Stadt akzeptiert zu haben und ist sogar in der Lage, sich für diesen zu freuen – außerdem war Kroatien eh irgendwann einmal Österreich. Es wird interessant sein zu sehen, ob wir die heute neu angekommenen Flüchtlinge in zwanzig Jahren genauso akzeptiert haben werden, wie die mittlerweile alteingesessenen Osteuropäer.

Bei Deutschlandspielen muss in Österreich sowieso neunzig Minuten lang deren jeweiliger Gegner angefeuert werden – auch bei uns hat das frühe Ausscheiden des großen Nachbarn deshalb eine Lücke hinterlassen.

Mitten draußen statt dabei

In Österreich gelten zu große Erfolge als unschick, bloß nicht auffallen lautet das Motto, weshalb wir uns bei der Teilnahme an Turnieren nobel zurückhalten. Das hat den Vorteil, dass wir bei jeder WM die Wahlfreiheit haben und uns alle vier Jahre ein neues Lieblingsteam aussuchen dürfen, für das wir die Daumen drücken. Bei Deutschlandspielen muss sowieso neunzig Minuten lang deren jeweiliger Gegner angefeuert werden – auch bei uns hat das frühe Ausscheiden des großen Nachbarn deshalb eine Lücke hinterlassen. Beim unserem eigenen Team hingegen sorgt ein Abschied nach der Vorrunde oder gar schon in der Qualifikation kaum für Katzenjammer, man ist einfach zu sehr daran gewöhnt. Dagegen setzt die bloße Teilnahme an einem Turnier ein Level an Begeisterung frei, für das in anderen Ländern schon der WM Titel geholt werden müsste. Für uns ist jedes Qualifikationsmatch ein Schicksalsspiel auf Messers Schneide, in Deutschland werden zehn gewonnen Quali-Partien quasi vorausgesetzt, und vor dem Achtelfinale fiebert auf der Berliner Fanmeile außer den kolumbianischen Austauschstudenten kaum jemand mit – zumindest normalerweise.

Spieler, die jede Woche in Barcelona und London vor fünfzigtausend Fans auftreten, können in Nischni Nowgorod einfach keine Höchstleistungen mehr bringen.

Deutschland, alles ist vorbei

Denn diesmal war alles anders: Deutschland, Brasilien, Argentinien, Spanien – sang- und klangloser als diese Teams kann man sich aus einem Turnier kaum verabschieden. Die besten der Welt waren müde, nach zehn Monaten voller Champions League, La Liga oder Cupspielen in der Provinz. Jede Woche findet das wichtigste Spiel der Saison statt, irgendwann kümmert es einen nicht mehr. Wer pro Stunde Millionen bei seinem Verein verdient, kann sich für das Trinkgeld, das an Prämiengeldern bei einer WM ausgeschüttet wird, kaum begeistern. Spieler, die jede Woche in Barcelona und London vor fünfzigtausend Fans auftreten, können in Nischni Nowgorod einfach keine Höchstleistungen mehr bringen. Während die größte Bühne des Weltfußballs oftmals neue Stars hervorbringt, wurden dieses Mal vor allem alte Leuchtfiguren demontiert: Jogi Löw wirkt wie der nette, aber mittlerweile etwas verwirrte Nachbar von Nebenan, Mesut Özil ist nur mehr ein Selfiepartner für türkische Diktatoren und Neymar hat sich in die Bilder der weltweiten Facebookfeeds gerollt. Dann war da noch die Sache mit dem Videobeweis, der zugegebenermaßen mehr Gerechtigkeit bringt, aber es gibt nun niemandem mehr, dem man die Schuld für die eigene Niederlage in die Schuhe schieben kann. Außerdem, ohne die tagelangen Diskussionen über die Fehlentscheidungen der Schiedsrichter ist Fußball kein Fußball mehr – oder würde heute irgendwer noch über das Wembley Tor reden, wenn es damals schon den Videobeweis gegeben hätte?

Ganz egal wer heute das Finale gewinnt, ab nächster Woche müssen wir uns wieder aufrauffen, den Pyjama ausziehen und überlegen, was wir mit dem Leben anfangen sollen. Zum Glück kommt in vier Jahren die nächste WM. Dann zwar in Katar und mitten im Winter, aber Public Viewing beim Glühweintrinken am Christkindlmarkt hat sicher auch seinen Reiz.

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